Konzeptionelle Grundlagen
Digitalisierung und Naturschutz haben vieles miteinander zu tun: Zum einen haben digitale Anwendungen in der Naturschutzarbeit längst Einzug gehalten. Sie reichen beispielsweise von der digital-gestützten Erfassung von Arten, Lebensraumzuständen und Landnutzungsformen, über vernetzte Dateninfrastrukturen, leistungsstarke Datenanalysemethoden bis hin zu modernen Kommunikations- und Beteiligungsformaten. Zum anderen birgt die Digitalisierung Risiken für den Naturschutz: So kann sie zum Beispiel nicht-nachhaltiges Handeln und Wirtschaften verstärken. Aber auch der hohe Energie- und Ressourcenverbrauch und die damit verbundenen Landnutzungskonflikte, der illegale Handel mit geschützten Arten über das Internet sowie eine mögliche Naturentfremdung in Teilen der Bevölkerung durch immer mehr Bildschirmzeit sind ernstzunehmende Risiken.
Sozioökologischer Kontext und Rahmenbedingungen
Die beiden Handlungsfelder Naturschutz und Digitalisierung spielen sich vor dem Hintergrund eines sozioökologischen Kontexts ab – in der Abbildung dargestellt durch die kreisrunde, äußere Umrandung. Dieser sozioökologische Kontext besteht zum einen aus dem Bereich „Mensch & Gesellschaft“ (links außen) und zum anderen aus dem Bereich „Ökosysteme & Natur“ (rechts außen). Laut Weltbiodiversitätsrat (IPBES) haben die Entwicklungen im Bereich „Mensch und Gesellschaft“ indirekte Auswirkungen auf den Zustand der Biodiversität, insbesondere mit Blick auf Konflikte & Epidemien, Demografie & Soziokultur, Wirtschaft & Technologie sowie Institutionen & Governance. Diese werden häufig als indirekte Treiber des Biodiversitätsverlustes bezeichnet. Sie befeuern wiederum die direkten Treiber für ökologische Veränderungen und den Verlust der Biodiversität im Bereich „Ökosysteme und Natur“, insbesondere durch die Ausbeutung biotischer Ressourcen, Klimawandel, Verschmutzung, intensive Land- und Meeresnutzung sowie die Ausbreitung invasiver Arten.
Die Entwicklungen in den Handlungsfeldern Digitalisierung und Naturschutz haben einen Einfluss auf die zugrundeliegenden Treiber des Biodiversitätsverlusts. Durch eine nachhaltige Ausgestaltung, bzw. effektive Umsetzung können Entwicklungen und Aktivitäten im Handlungsfeld Digitalisierung und Naturschutz idealerweise zum Erhalt und zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt führen. Beide Handlungsfelder sind dabei stark von wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie von sozio-kulturellen Normen und Wertevorstellungen geprägt. In der Abbildung sind diese Rahmenbedingungen auf der linken Seite dargestellt.
Handlungsfeld Digitalisierung
Für eine möglichst systematische Betrachtungsweise untergliedern sich die Handlungsfelder in unterschiedliche Teilbereiche – in der Abbildung visualisiert durch die Kacheln in der Mitte. Das Handlungsfeld Naturschutz (grüne Kacheln) besteht u.a. aus den Bereichen Monitoring, Bildung & Öffentlichkeitsarbeit, Vollzug & Governance. Das Handlungsfeld Digitalisierung (blaue Kacheln) umfasst u.a. Datenerhebung, Dateninfrastruktur & -management, Datenanalyse & -bewertung und wird im Folgenden näher erläutert.
Ganz grundlegend bedeutet der Begriff Digitalisierung die Übertragung von analogen Aufzeichnungen und Vorgängen in ein maschinenlesbares Format. Darauf aufbauend ist die digitale Transformation eine Umgestaltung von Prozessen, Organisationen und gesamten Gesellschaftsbereichen. Digitalisierung im weiteren Sinne beschreibt somit keinen Zustand, sondern einen umfassenden Wandlungsprozess.
Das BfN fokussiert sich in der strategischen Arbeit vor allem auf aktuelle und zukünftige Trends und Treiber der Digitalisierung und deren Wirkung auf den Naturschutz. Hierbei lassen sich Digitalthemen in die folgenden fünf Schwerpunktbereiche untergliedern:
Datenerhebung
Neue Möglichkeiten der Datenerhebung steigern den zeitlichen, räumlichen und fachlichen Datengewinn über die Natur. Dazu zählen vor allem Methoden der Fernerkundung mittels Satelliten, Flugzeuge oder Drohnen. Durch die Weiterentwicklung verschiedener Erdbeobachtungsprogramme erweitern sich die Anwendungsmöglichkeiten für den Naturschutz stetig. Für das Erfassen naturschutzrelevanter Daten sind auch bodenbasierte Technologien essentiell, wie z.B. akustische, visuelle und olfaktorische Sensoren, Telemetriesender und animatronische Kamera-Roboter. Auch die Datenerfassung über mobile Endgeräte (z.B. Smartphones) und digitale Eingabemasken verbessern die zur Verfügung stehenden Datenmengen stetig und unterstützen z.B. die Möglichkeiten von Ehrenamt und Bürgerwissenschaften (Citizen Science).
Datenmanagement und -infrastruktur
Eine exponentiell steigende Datenmenge stellt steigende Anforderungen an Datenhaltung, -vernetzung und -zugang. Dabei ist die Verfügbarkeit von Natur- und Umweltdaten die Grundlage für Forschung, Monitoring und Vollzug. Zum Beispiel erfordern DNA-Barcoding-Verfahren zur Identifizierung von Arten oder auch die Kontrolle gentechnisch-veränderter Organismen Zugriff auf Referenzdatenbanken mit entsprechenden digitalen Sequenzinformationen (DSI). Für die Nutzbarkeit und Vergleichbarkeit von Daten spielen insbesondere Metadaten- und Managementstandards eine Rolle. Weitere wichtige Aspekte dieses Schwerpunktbereichs umfassen zudem Fragen des Dateneigentums, Nutzungsrechte sowie den öffentlichen Zugang zu Behörden- und Forschungsdaten (Open Data).
Datenanalyse und -bewertung
Die steigende Menge und Komplexität der Datengrundlage, erfordert fortgeschrittene Analysemethoden, um aus den erhobenen Daten wertvolle Erkenntnisse zu ziehen. Wesentliche Fortschritte erfolgen im Bereich der Szenarienmodellierung, datenbasierter Entscheidungssysteme (Decision Support Systeme) sowie des maschinellen Lernens (ML) aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz. Entwicklungen im Bereich der automatischen, ML-basierten Erkennung von Landschaftsstrukturen oder Arten sind erst durch die Verwendung komplexer Algorithmen in Kombination mit einer fundierten Datengrundlage möglich.
Methoden und Tools zur Prozessgestaltung
Moderne Arbeitsweisen und Methoden, wie Design Thinking oder agiles Projektmanagement, verändern die Art der Zusammenarbeit in Teams und Projekten. Dieser Trend wird durch eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten im Bereich der digitalen Zusammenarbeit begleitet. Diese neuen Arbeitsformen, Tools und Methoden wirken sich auf Naturschutzakteure und deren Institutionen aus und beeinflussen grundlegende Prozesse zur Arbeitsweise an naturschutzfachlichen Themen. Dies betrifft den Austausch zwischen Akteur*innen und Institutionen, die digitale Vernetzung im öffentlichen Raum sowie die zielgruppenspezifische Informationsvermittlung und Mobilisierung von Ehrenamtlichen und Citizen Scientists.
Digitale Berührungspunkte
Unter digitalen Berührungspunkten, auch „digitale Touchpoints“ genannt, versteht man die Schnittstelle, über die ein Nutzer oder eine Nutzerin digitale Inhalte auf einem Endgerät abruft. Beispiele sind klassische Webseiten und Apps, sowie zunehmend auch Virtual Reality- und Augmented Reality Anwendungen oder die Interaktion mit sogenannten “Smart Speakern“.
Fazit
Das vorgestellte Modell eröffnet dem Betrachter eine systematische Erschließung des Themenfeldes Digitalisierung im Naturschutz und schafft ein Verständnis dafür, wie diese beiden Handlungsfelder zusammenhängen. Das strategische Element des Modells besteht darin, digitale Anwendungen im Naturschutz systematisch entlang der Handlungsfelder, der Rahmenbedingungen und des soziökologischen Kontextes zu analysieren und zu bewerten. Fachanwender*innen im Naturschutz ermöglicht es als praktisches Tool einen strukturierten Einstieg bei der Ideenfindung, Ideenverortung und Ideenbewertung von digitalen Anwendungen. So können Forschungslücken identifiziert, bestehende sowie zukünftige digitale Anwendungen thematisch differenziert betrachtet und auf ihre Wirkung mit Hinblick auf die direkten und indirekten Treiber holistisch bewertet werden.